Wenn in alten Zeiten die Frauen mit ihren Töchtern und Enkeltöchtern abends am Feuer zusammensaßen, erzählten sie ihnen oft Geschichten, die sie von ihren Vorfahrinnen gehört hatten. Die weisen Alten wussten viel über das weibliche Seelenleben und gaben dieses Wissen meist in einer symbolhaften Sprache an die nächsten Generationen weiter.
Verpackt in Märchen und Sagen und voll von bildhaften Handlungen, ging diese Weisheit bis heute nicht verloren. Denn das weibliche Wissensgut ist nicht nur im morphogenetischen Feld (weltumspannender Bewusstseinsspeicher auf der energetischen Ebene; Sitz des Massenbewusstseins) von uns Frauen bis heute abgespeichert, sondern wurde zu einem wertvollen Schatz, der beispielsweise im Buch „Die Wolfsfrau“ gesammelt und festgehalten wurde.
Das Erstaunliche daran: Egal, ob die Erzählungen von Eskimofrauen oder Indianerfrauen, von Wüstennomadinnen oder afrikanischen Buschfrauen stammen, die heilsamen und erkenntnisreichen Botschaften, die über die Erfahrungen, Verletzungen und Prägungen der weiblichen Seele berichten, ähneln einander alle sehr.
Was haben Wölfinnen mit uns Frauen zu tun?
„Nicht nur die wilden Tiere, auch die wilden Frauen dieser Erde sind vom Aussterben bedroht. Im Laufe mehrerer Jahrtausende wurden die weiblichen Urinstinkte systematisch plattgewalzt, abgeholzt, ausgeplündert, unterdrückt, oft auch zubetoniert.“ (Die Wolfsfrau. Die Kraft der weiblichen Urinstinkte. München 1993, S. 13). So beginnt mein Lieblingsbuch über die weibliche Seele.
Die Autorin Clarissa Pinkola Estés, eine bedeutende Psychoanalytikerin, veröffentlichte bereits in den 1990er-Jahren eine Sammlung von symbolhaften Mythen, Märchen und Erzählungen aus aller Welt. In ihrem Weltbestseller „Die Wolfsfrau“, einem Klassiker der spirituellen Frauenliteratur, fasst sie die bedeutsamsten Geschichten samt ihren dazugehörigen tiefenpsychologischen Interpretationen zusammen.
Pinkola Estés, die Wölfe über alles liebt, zeigt in den von ihr interpretierten Geschichten, dass freilebende Wölfe und Frauen, die noch tief mit ihrer angeborenen und deshalb ungekünstelten Weiblichkeit verbunden sind, sehr vieles gemeinsam haben. Beide sind von Natur aus wissbegierig, loyal, beziehungsorientiert und ausdauernd. Sie besitzen ein intuitives Feingefühl, haben eine Vorliebe für alles Spielerische und sind sehr seelenvoll. Wenn es um ihre Kinder oder Lebensgefährten bzw. den Rest des Rudels geht, sind sie äußerst anpassungsfähig, lassen sich von ihren Instinkten leiten und können in Krisensituationen weit über sich hinauswachsen.
Die Wölfinnen von heute
So, wie die Naturgebiete dieser Erde immer mehr ihrer ursprünglichen Bestimmung beraubt und dezimiert werden, passiert es auch mit den „Wilden Frauen“, die nicht mehr dem Ruf ihrer eigenen Seele folgen können. Deshalb verlieren Frauen immer mehr die Erinnerungen an ihre ursprünglichen, weiblichen Bedürfnisse und Fähigkeiten. Weltweit ist zu beobachten, dass sich Mädchen und Frauen mehr und mehr in von der Gesellschaft vorgefertigte Schablonen pressen oder sich beispielsweise von den wechselnden Diktaten der Mode- und Kosmetikindustrien gängeln lassen.
Auch Religionen und Kulturen stecken Frauen noch immer in die von ihnen bestimmten Gussformen und Zwangsjacken und missachten ihre seelischen Bedürfnisse. Millionen Frauen lehnen sich dagegen auf und versuchen sich zu wehren. Doch der Widerstand gegen die Normen und Regeln ihrer Gesellschaft zieht noch immer ungerechtfertigte Bestrafungen von Frauen und andere schwerwiegende Sanktionen nach sich.
In den alten Märchen, Mythen und Legenden findet man viele Erzählungen, die der Wiederbelebung der weiblichen Urinstinkte dienen. Denn viele Erzählungen lassen sich wie Landkarten der weiblichen Seele lesen und durch das Lesen oder Erzählen der Geschichten kann verloren geglaubtes Wissen wieder aus dem Unterbewusstsein heraufgeholt und bewusst gemacht werden.
Religiöse Bereinigung von Märchen
Die Märchen im Buch „Die Wolfsfrau“ wurden von der Autorin aus Hunderten von Erzählungen aus aller Welt ausgewählt und zusammengestellt. Dabei stellte sie fest, dass viele Märchen im Laufe der Jahrhunderte „religiös bereinigt“ wurden. Fast alle Erzählungen wurden in den letzten Jahrhunderten von sexuellen, aber auch von heidnischen Elementen befreit. So wurden in den Geschichten aus alten Heilerinnen böse Hexen oder aus Naturgeistern Engel. Schleier, die bei heidnischen Einweihungsritualen verwendet wurden, gerieten zu bedeutungslosen Taschentüchern und die sexuellen Elemente in den Märchen wurden völlig eliminiert. Dadurch ging den Frauen ein unermesslicher Wissensschatz über Liebe, Eheleben, Sexualität, Schwangerschaft, weibliche Transformation oder über den Tod verloren.
Doch wer wie die Autorin, die archetypische Symbolsprache gelernt hat, kann die verlorenen Botschaften wieder rekonstruieren. So blieb über die Jahrtausende hinweg viel an weiblichem Wissen erhalten. Denn es bleibt nicht nur in den Erzählungen, sondern auch im morphogenetischen Feld abgespeichert, das existiert, seit es uns Menschen gibt. Jede Frau steht mit diesem Informationsfeld auf der energetischen Ebene in Verbindung, die eine mehr – die andere weniger. Das hängt mit der jeweiligen Intuition, der Sensitivität und dem spirituellen Bewusstsein zusammen. Allein das Wissen um diese weibliche Weisheit ermöglicht es schon, sich in Ansätzen damit wieder rückzuverbinden.
Die Auferstehung der Wilden Frau
Wenn in Märchen von
- Hexen,
- Müttern,
- Prinzessinnen,
- Königinnen und
- Jungfrauen in der Wildnis
zu lesen ist, sind das bildhafte Darstellungen der Wilden Frau. In diesem Zusammenhang bedeutet „wild“ nicht „wildgeworden“, „aggressiv“ oder „außer Kontrolle geraten“, sondern diese Bezeichnung bezieht sich auf die natürliche Lebensweise, die Grundbedürfnisse, die Intuition, die Weisheit und die innere Kraft einer Frau. Die Wilde Frau repräsentiert wichtige Aspekte der Weiblichkeit und ist ein Hinweis darauf, dass wir endlich wieder unsere instinkthafte und in uns angeborene Kraft reaktivieren sollten.
Man könnte die Wilde Frau als den Prototyp der Urfrau bezeichnen - und der ist unveränderlich, egal, was die verschiedenen Zeitepochen mit sich brachten und noch bringen werden. Die Wilde Frau bzw. ihre Uressenz bleibt immer gleich, auch wenn sich ihre äußeren Erscheinungsbilder ändern. Die Wilde Frau ist ganz tief in jeder von uns zu Hause, dort wo sie von niemandem angegriffen und unterdrückt werden kann. Sobald sich ihr eine Möglichkeit bietet, kommt sie wieder hervor, um sich an der Oberfläche zu zeigen und ihre Bedürfnisse und Stärken zu leben. Doch das ist oft mit spiritueller Heilungsarbeit verbunden. „Eine Psychologie, die es versäumt, das spirituelle Wesen im Zentrum der femininen Psyche zu kontaktieren, muss als gescheitert betrachtet werden, denn sie versagt ihre Hilfe nicht nur den einzelnen Frauen jetzt und hier, sondern auch den Töchtern der heutigen Frauen und allen zukünftigen Nachkommen des weiblichen Geschlechts.“ (Die Wolfsfrau. Die Kraft der weiblichen Urinstinkte. München 1993, S. 19)
Je mehr und bewusster wir uns mit der weiblichen Seele befassen, desto rascher und tiefer kann ein weltumspannender Heilungsprozess in Bewegung kommen, der uns Frauen – aber auch den Männern – ein neues Bewusstsein und gleichzeitig einen tiefen inneren Frieden bringen kann. Denn erst wenn die weiblichen und die männlichen Energien auf unserem Planeten Erde ausgeglichen sind, kann die Welt eine wirklich lebenswerte werden.
Autorin: Ingrid Auer