Kaum eine andere emotionale Verbindung zwischen zwei Menschen kann so stark polarisieren wie die zwischen Müttern und Töchtern. Söhne beginnen bereits in ihrer frühen Kindheit, sich von ihren Müttern abzugrenzen und sich dem Vater oder anderen männlichen Bezugspersonen als Vorbild zuzuwenden. Meist wird das von den Müttern gut akzeptiert, da sie ja selber möchten, dass aus ihren kleinen Söhnen eines Tages große, unabhängige und starke Männer werden.
Was ist die Besonderheit in der Beziehung zwischen Müttern und Töchtern
Für Töchter stellen Mütter von klein auf den Inbegriff des weiblichen Seins dar. Viele Mädchen identifizieren sich mit ihren Müttern, nehmen sie als Vorbild, ahmen sie nach – oder lehnen sie aufgrund von Enttäuschungen oder körperlichen bzw. seelischen Verletzungen vollkommen ab.
Mütter nähren ihre Töchter: Sie schenken ihnen Nestwärme, Trost, Zuspruch, Verständnis und sind ihre engsten Vertrauten. In den Augen kleiner Mädchen wissen Mütter alles, glätten die Wogen, zaubern in der Küche und sind erfolgreich im Beruf. Mütter bestärken ihre Töchter darin, in die von ihnen vorgelebte Frauenrolle zu schlüpfen, weil sie sich damit auskennen und identifizieren können. Doch irgendwann, spätestens in den Jahren der Pubertät, verändert sich das einstmals so innige Verhältnis.
Töchter lösen sich von ihren Müttern und liefern ihnen oft erbitterte Ablöse-Kämpfe. Der Loslass-Prozess, den ihre Brüder schon von klein auf Schritt für Schritt immer wieder wie selbstverständlich durchlebten, kommt auf Mütter und Töchter erst in der Pubertät zu. Manchen Frauen jedoch gelingt es bis ins hohe Erwachsenenalter nicht, sich von ihren Müttern ohne verletzende Emotionen und ohne Schuldgefühle zu entkoppeln. Bereits zu diesem Zeitpunkt sind die Weichen in der Erziehung der Mädchen gestellt. Sie ist prägend für ein ganzes Leben. Ob Mütter das Frausein ihrer Töchter bestärken oder schwächen, beflügeln oder beschneiden, entscheidet sich bereits in den ersten Lebensjahren. Wie sehr eine Frau mit diesen Prägungen umgehen lernt oder sie eines Tages ganz ablegen kann, hängt ganz individuell von jeder einzelnen ab.
Kenne ich meine Mutter eigentlich?
Hast du dir schon einmal die folgenden Fragen gestellt?
- Wer ist meine Mutter eigentlich?
- Warum ist sie so, wie sie ist?
- Worin hat sie mich enttäuscht?
- Worin habe ich sie enttäuscht?
- Worunter leidet sie?
- Habe ich eine Wunschvorstellung von meiner Mutter?
- Idealisiere ich sie?
Die Beziehung zur eigenen Mutter kann im Laufe eines Lebens ziemlich in Schieflage geraten, vor allem dann, wenn man sich von ihr unverstanden, benachteiligt, ungeliebt oder ungerecht behandelt fühlt. Manchmal führt das zu einer emotionalen Eiszeit zwischen Müttern und Töchtern, manchmal sogar zu einem Abbruch der Beziehung. Wenn man es dabei nicht belassen möchte – zumindest für sich selbst – bzw. Frieden mit seiner Mutter schließen mag, dann ist es dafür nie zu spät. Egal, ob sie noch am Leben ist oder nicht; egal, ob man persönlich Kontakt mit ihr hat oder nicht.
Rollen: Erstens Mensch, zweitens Frau und drittens Mutter – nicht umgekehrt
Eine Mutter ist eine ganz spezielle Sorte Mensch, denn sie verkörpert viele Rollen in einer Person. Sie ist
- Ernährerin, Köchin
- Amme
- Wäsche- und Putzfrau, Büglerin
- Apothekerin, Krankenschwester, Masseurin
- Handwerkerin
- Taxifahrerin
- Lehrerin
- Beichtmutter, Psychologin
- Partyveranstalterin, Organisatorin
- Buchhalterin,
- Seelentrösterin ...
um nur einige ihrer Einsatzgebiete zu nennen. Daneben sollte sie noch Geliebte, Ehefrau, gleichberechtigte Partnerin, beste Freundin und allzeit bereite Verführerin sein.
- Ist sie vielleicht auch noch ein Mensch mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen?
- Ohne Fremdbestimmung von Seiten ihres Partners, ihrer Eltern oder der Kinder?
- Wo ist da noch Raum für sie selbst?
Klar, eine Mutter bleibt ihr Leben lang die biologische Mutter ihrer Kinder. Aber ist es nicht so, dass es – zumindest in unserem westlich-zivilisierten Kulturkreis – als Selbstverständlichkeit gilt, dass eine Frau ihr Leben lang auch die soziale Rolle der Mutter einnimmt und beibehält?
Unsere gängige Definition der Mutterrolle rechtfertigt eine lebenslange gesellschaftliche Erwartung und Verpflichtung von Frauen, die kein Ende findet. Ja, unsere Kultur vertritt jene Vorstellung von Mutterschaft, bei der sowohl Mütter als auch Töchter niemals ihre Rolle verlassen (können). Diese Rolle verhindert allerdings eine Begegnung der Frauen untereinander auf Augenhöhe.
Wie lange ist eine Frau eine Mutter?
Verschiedene indigene Völker halten es mit der Mutterrolle ganz anders: Dort ist eine Frau eine Mutter, solange sie von ihren Kindern gebraucht wird. Ist die Zeit jedoch reif und können ihre Kinder für sich selber sorgen, dann kehrt die Frau ihrer Mutterrolle wieder den Rücken zu und mit anderen Bestimmungen zurück in die Gesellschaft. Sie ist dann wieder ganz Frau – was sie vorher natürlich auch war –, aber sie wendet sich dann wieder ganz ihrem eigenen Leben, ihrem Partner und der Gemeinschaft zu. Sie ist einfach wieder nur Mensch, denn ihre Zeit der Mutterschaft war begrenzt und ist abgelaufen. Damit beginnt ein neuer Abschnitt zwischen Mutter und Tochter, nämlich eine Begegnung zwischen Frau und Frau, zwischen Mensch und Mensch, und zwar auf Augenhöhe.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt wissen oder ahnen Mütter jedoch, dass sie nicht immer alles richtig gemacht haben. Vielleicht konnten sie auch nicht alles geben, was sie eigentlich wollten. Doch viele Töchter „erwischen“ ihre Mütter an der verwundbarsten Stelle, nämlich bei ihren Schuldgefühlen. Spätestens dann fühlen sich viele Mütter schuldig, bewusst oder unbewusst, denn sie wollten ja nur das Beste für ihre Kinder. Vielleicht wollten sie sogar alles besser machen, als es ihre eigene Mutter konnte
Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird vielen Müttern auch schmerzhaft bewusst, dass sie ihren Töchtern keine grenzenlose Liebe schenken konnten, weil sie selber emotional überfordert waren. Oder sie konnten ihren Kindern kein bedingungsloses Vertrauen schenken – aus tiefer Angst und Sorge um sie. Vielleicht konnten sie ihnen auch nicht immer ihre Gefühle zeigen, weil sie selbst so verwundbar waren.
Tatsache ist: Mütter konnten und können uns nicht alles geben, was wir als Töchter gebraucht hätten oder noch immer brauchen würden. Denn sie sind auch „nur“ Menschen und dadurch in ihren Handlungen und dem Sichtbar- und Spürbarmachen ihrer Liebe eingeschränkt oder blockiert. Spätestens als erwachsene Frauen – vielleicht sogar selber schon in der Mutterrolle – beginnen wir, die eigene Mutter besser zu verstehen. Denn wie oft fühlen wir uns in dieser Rolle genauso gestresst, überfordert, ängstlich oder ausgepowert, wie einst unsere eigene Mutter. Auch wir wollen nur das Beste für unsere Kinder – aber wir kriegen das nicht immer hin. Da schließt sich nun der Kreis, denn auch wir rutschen in eine Spirale von mütterlichen Schuldgefühlen hinein.
Was ist da zu tun? Beginnen wir zu verstehen, dass unsere Mutter in erster Linie Mensch, in zweiter Linie Frau und in dritter Linie Mutter ist! Dann können wir sie unter einem neuen Blickwinkel betrachten und sind wahrscheinlich eher dazu bereit und in der Lage, uns innerlich mit ihr auszusöhnen. Sozusagen als ersten Schritt. Weitere dürfen folgen!
Autorin: Ingrid Auer