Hast du schon einmal die frustrierende Erfahrung gemacht, dich voll auf ein Projekt einzulassen und in dem Moment, wo es heiß wird, lässt dein Partner dich im Stich? Ätzend, nicht wahr? Doch wo eierst du selbst noch rum? Wo springst du aus dem Ofen, sobald die Temperatur anzieht? Schau dich in deinen Beziehungen um und du erkennst viele nicht durchgebackene Brötchen.
Sich wirklich einzulassen, heißt sterben.
Du wählst das Eine und stirbst bewusst für alle anderen Optionen.
Endlich am Ziel
Ich selbst habe mich so sehr vor dem Heiraten gefürchtet, dass ich unsere erste Hochzeit tatsächlich vergeigt habe. Doch das ist eine andere Geschichte. Heute möchte ich dir von der für mich als Freiheitsfanatiker überraschenden Befreiung erzählen, die ich empfand, als wir dann später doch das Standesamt als Mann und Frau verließen. Es war, als wäre ein Schiff nach jahrelangem Sturm endlich in einen friedvollen Hafen eingelaufen. Eine kolossale Last war von mir angefallen – die Last der Option. Ich musste nicht mehr in jeder Krise erneut überlegen, ob ich den Vorwärts- oder Rückwärtsgang einlegen soll. Mein Verstand marterte sich im Streit nicht mehr mit der Frage, ob Andrea die Richtige ist oder nicht. Sie war jetzt einfach und eindeutig meine Gefährtin in diesem Leben. Nicht, weil sie oder ich perfekt waren. Nicht, weil ich dachte, sie wäre auf jeden Fall die beste Wahl unter den gut dreieinhalb Milliarden Frauen dieser Welt. Sie war die Richtige, weil wir uns entschieden hatten, uns voll aufeinander einzulassen. Es hatte keinen Sinn mehr, gegen etwas zu kämpfen, was ich voll gewählt hatte. An diesem Tag begann ich, wahrhaft mit ihr zu kooperieren und ihre wirkliche Schönheit zu entdecken.
Das Mysterium eines Menschen wird sich dir erst offenbaren, wenn du ihm dein vollständiges JA schenkst. Wenn du ihm mit der Haltung eines kalkulierenden Krämers begegnest, wirst du seine Vollkommenheit nicht entdecken.
Es ist ein Riesenunterschied, ob du versuchst, dich auf etwas einzulassen oder ob du es wirklich tust. Viele Menschen sind nicht mal in sich selbst zuhause. Selbstzweifel versperren den Eingang: „Ich sollte eigentlich schlauer, liebevoller, stärker, schlanker etc. sein.“ Dein richtender Verstand hält dich in kritischer, liebesarmer Distanz zum eigenen Leben – bis es vorbei ist und du realisierst, dass du alles warst, was du hattest.
Die Schwierigkeit einer Beziehung
Mit Beziehungen ist es noch diffiziler, denn wir leben ja in einer ach so freien Welt. Es besteht jederzeit die Möglichkeit, den Menschen vor dir gegen einen anderen auszutauschen, wenn es nicht klappt (Ausgenommen sind deine Verwandten. Hier wird das Offensichtliche noch offensichtlicher. Ob du nämlich willst oder nicht: Du hast immer zu uns allen eine Beziehung.). Doch genau dieses Berechnen hält uns davon ab, uns wirklich auf einen anderen einzulassen. So verbringen wir viel Zeit mit Menschen, ohne sie wirklich zu erkennen. Das beschränkt sich keineswegs nur auf deine Liebesbeziehung. Es betrifft alle Wunder auf zwei Beinen, die täglich deinen Weg kreuzen und die du verschläfst …
- weil der Moment nicht der richtige ist,
- der Mensch nicht zu dir passt,
- du gerade wahnsinnig wichtig beschäftigt bist usw.
Die Magie der (Nächsten)Liebe
Hast du dich schon einmal voll auf deinen Postboten eingelassen, anstatt ihm nur hektisch das Paket abzunehmen? (He, ich meine nicht das, was du da gerade denkst!) Schau ihm das nächste Mal einfach etwas länger und vor allem bewusst in die Augen. Er ist ein atmendes Wunder mit einer spannenden Geschichte. In ihr geht es genauso um Träume und Sehnsüchte, Siege und Niederlagen wie in deiner. Lass dich auf ihn ein. Heirate diesen Menschen für einen Augenblick – und plötzlich liegt Magie in der Luft. Sie war vorher da. Sie ist immer da. Doch du kannst sie nur wahrnehmen, wenn dein Bewusstsein diesen Augenblick und diesen Menschen voll wählt. Ihr redet vielleicht nur über ein Paket oder das Wetter. Doch dabei berühren sich eure Wesen und die sind magisch. Vielleicht steht ihr nur 30 Sekunden an der Tür und seid füreinander da. Eine halbe Minute, die dich für den Rest des Tages verzaubert.
Wenn du das nächste Mal einen öffentlichen Raum betrittst – eine Einkaufsmeile, einen Bahnhof oder ein Restaurant – schau dich aufmerksam um. Wer von den Anwesenden ist wirklich anwesend? Guck genau hin. Kannst du es sehen? Viele sind hier und doch nicht wirklich hier. Sie leben in einem unsichtbaren Ganzkörperkondom aus Zweifeln und Vorbehalten. Der eigene Geist spinnt sie ein und vermeidet so den nackten Kontakt zu dem Leben, das sich ihnen just in diesem Augenblick präsentiert und nach Erkennen dürstet.
Wenn du das nächste Mal von Zweifeln geplagt bist, ob der Mensch vor dir der „Richtige“ für dich ist, geh einfach noch einen Schritt auf ihn zu. Lass dich auf ihn ein. Sieh ihn an, hör ihm zu, fühle mit ihm. Ihr seid ganz offensichtlich JETZT füreinander bestimmt, denn sonst würdet ihr nicht voreinander stehen. Wie lange ihr miteinander lernen dürft? Wer weiß das schon? Doch du kannst nur herausfinden, wie weit ihr miteinander gehen könnt, wenn du dich auf diesen nächsten Schritt voll entschlossen einlässt.
Wohlstandsgesellschaften bringen wunderbare Geschenke mit sich, doch sie schwächen, wenn du nicht aufpasst, deinen Geist. Zum Beispiel gewöhnen sie uns daran, alles, was wir brauchen, mal schnell im Supermarkt oder im Online-Versandhandel besorgen zu können. Funktioniert etwas nicht mehr, werfen wir es weg und kaufen es neu.
Das Wesen eines Menschen entdeckst du so nicht. Dafür braucht es Zeit und Entschlossenheit. Ich bin nun so viele Jahre mit Andrea zusammen und immer noch lehrt sie mich das Staunen. Gleicht nicht jeder von uns einer Burg mit vielen vorgelagerten Schutzwällen? Je entschlossener sich ein anderes Wesen wirklich auf uns einlässt, desto näher lassen wir es an unserem Mysterium teilhaben und desto mehr fühlen wir uns erkannt. Wer hat dein wahres Wesen schon berühren dürfen? Und wen konntest du in seinem Innersten begegnen?
- Wie sehr willst du dein Gegenüber wirklich erkennen?
- Wie beherzt bist du, herauszufinden, was zwischen euch möglich ist?
- Welche Beziehung ist dir so wichtig, dass du bereit bist, ihr mit Respekt und sanfter Entschlossenheit zu begegnen?
- Mit welchem Menschen möchtest du erfahren, wohin euch die Meisterschaft im Lieben führen kann?
Wenn du lediglich versuchst, Violine zu spielen, wirst du so lange üben, bis es zum ersten Mal richtig schwierig wird. Dann wirst du aufhören und nie herausfinden, was möglich gewesen wäre.
Wenn du entschlossen bist, spielst du weiter. Auch in jenen Momenten, in denen du keine Fortschritte machst. Gerade in diesen Zeiten, George Leonard (ein amerikanischer Autor und Pädagoge) nennt sie die Plateauphasen, reifen wahre Beziehungen.
Also:
Willst du weiter herumeiern oder willst du es wissen?
Wie du dich entschlossen einlassen kannst:
- Hör auf, Wegrennen als Freiheit zu rechtfertigen. Schau dir ehrlich an, wie viel Angst vor Hingabe, Nähe und Öffnung in dir ist.
- Finde heraus, was du wirklich-wirklich in Beziehungen willst. Für mich war es ein Durchbruch, als ich realisierte, dass ich nicht primär in einer Liebesbeziehung bin, um Recht zu bekommen (auch in meiner Vorstellung vom richtigen Partner) oder damit alle meine Wünsche erfüllt werden. Mein oberstes Anliegen ist zu erwachen. Ich muss herausfinden, wer ich wirklich bin und wie tief ich lieben kann. Dafür brauche ich keine „perfekte“ Frau mit Katalogmaßen und anschmiegsamen Charakter an meiner Seite, sondern eine wilde Gefährtin, die im Feuer stehen kann.
- Hör auf, dich mit der beliebten Ausrede aufzuhalten, der „andere“ sei ja nicht bereit, sich voll einzulassen. Diese Welt ist ein Spiegelsaal! Projektion ist ein fast ständig in uns ablaufender psychologischer Mechanismus. Jeder Mensch will vor sich selbst und anderen gut dastehen. Deshalb verdrängt unsere Psyche gern die ungeliebten Aspekte und schiebt sie anderen Menschen in die Schuhe. Womit wir bei uns nicht in Frieden sind, sehen wir plötzlich überdeutlich in unseren Mitmenschen – Neid, Langeweile, Lust etc. Das führt stellenweise zu abstrusen Widersprüchen. Nur ein Beispiel: Um jemand anderen Rechthaberei vorzuwerfen, musst du dir in deiner Wahrnehmung ziemlich sicher sein, stimmt’s? Doch was ist dieses Urteil über dein Gegenüber, wenn nicht Rechthaberei? Hier kommt noch ein Gutes: Wenn du deinem Partner gerade vorwirfst, dass er sich nicht auf dich einlässt, so wie du bist – was machst du dann selbst gerade? Bingo! Ich weiß, es ist extrem schwer, mit dem Rummäkeln am anderen aufzuhören. Es fühlt sich so verdammt richtig an und es hält dich sehr effektiv davon ab, etwas an dir selbst ändern zu müssen. Wenn du aus der Sackgasse raus willst, hör mit dem Rumziehen am anderen auf. Lass du dich voll auf den Menschen vor dir ein, gib alles. Und dann schau, was passiert. Entweder der andere zieht mit oder er macht sehr schnell Platz für eine passendere Verbindung.
- Mach dir klar, dass es keine perfekte Partie auf diesem Planeten gibt. (Stell dir vor, die perfekte Frau/der perfekte Mann würde plötzlich vor dir stehen. Was sollte sie/er dann bloß mit dir anfangen…?) Menschen werden dir erst zeigen, wie natürlich vollkommen sie sind, wenn du dich voll auf sie einlässt.
- Im Endeffekt geht es nicht um eine Beziehung zu einem anderen Menschen, es geht immer nur um dich. Das ganze Leben ist ein einziger fucking-brillanter Test, der dich auf tausend verschiedene Weisen fragt und prüft: Wie weit willst du gehen? Wofür bist du wirklich hier? Oder, um bei der Metapher zu bleiben: Willst du deiner Violine hin und wieder schräge Töne entlocken oder sie mit Meisterschaft spielen lernen?
Entschlossenes Einlassen ist nichts für Sicherheitsfreaks, die eine bequeme Couch suchen, um ihr Leben aus sicherer Entfernung an sich vorbeiziehen zu lassen. Du musst es echt wollen. Du musst den anderen richtig wollen. Denn es kann heiß werden. Unbequem. Peinlich. Öde. Du wirst deinen inneren Engeln und Dämonen begegnen, wenn du wählst, dich wirklich einzulassen. Du wirst fühlen, wie unermesslich groß dein Herz und wie erbärmlich klein dein Geist sein kann. Du wirst dem Tier und dem Gott in dir begegnen.
Lohnt es sich? Und ob! Die Geschenke einer Beziehung, die die Schallmauern des Zögerns passiert, sind... ha! Nähe, näher als nah. Ein klares Aufeinander-eingespielt-Sein bis hin zur telepathischen Verbindung. Ein heiliger Raum zum Heilen deiner ältesten Wunden. Ein subtiler Humor, der jede Bitterkeit versüßt. Eine vergebende Kraft, die dich mit der Menschheit versöhnt und dich für uns alle hoffen lässt. Kostenlose Psychotherapie, Ekstase, Stille, Zufriedenheit und immer wieder neues Staunen …
Als Andrea und ich das Standesamt verließen, hatte ich zum ersten Mal eine menschliche Beziehung als tägliche Übungsmatte für den Rest meines Lebens akzeptiert. Seitdem sind weitere dazu gekommen. Meine Tochter. Meine Freunde. Meine Klienten. Und – ich selbst!
Ich stehe am Morgen auf und erscheine auf der Matte. Es gibt hervorragende, gute und beschissene Tage. Manchmal erziele ich sensationelle Durchbrüche in der Kunst der Beziehung und manchmal schmettert mich einer meiner Übungsmeister wieder auf den Boden und lehrt mich Demut. Es geht auf und es geht ab. Mein Herz lächelt und jauchzt und manchmal blutet es. Doch was bleibt, ist der Frieden, denn ich habe gewählt.
- Wer sich voll einlässt, kommt an.
- Wer ankommt, findet sich.
- Wer sich findet, lächelt still.