In den 1950er Jahren wurde blinden Menschen in den USA und Europa aufgrund verbesserter Operationstechniken vermehrt dazu geraten, sich die Augen aus kosmetischen Gründen entfernen und durch Glasaugen ersetzen zu lassen. Doch schon bald stellte sich heraus, dass die operierten Patienten auffallend oft an schweren Depressionen, Schlafstörungen und anderen vegetativen Störungen erkrankten.
Was fanden Forscher über den Tagesrhythmus heraus?
Zur gleichen Zeit führte der Biologe und Verhaltensphysiologe Jürgen Aschoff Experimente durch, bei denen Menschen mehrere Wochen in völliger Isolation ohne jeden Bezug zu Tag und Nacht verbrachten. Aschoff konnte bei den Probanden, wie schon bei Vögeln und Mäusen vorher, feststellen, dass es einen inneren Rhythmus in Organismen gibt, der unabhängig von Tageslicht und Dunkelheit funktioniert. Doch dieser Rhythmus entspricht nicht ganz dem 24-Stunden-Zyklus eines Tages, sondern weicht leicht davon ab. Aschoff ermittelte bei seinen menschlichen Probanden einen Mittelwert von 24,86 Stunden. Wird der Mensch ganz diesem inneren oder circadianen Rhythmus überlassen, ohne durch Tag und Nacht auf den Rhythmus einer Erdumdrehung „geeicht“ zu werden, treten vegetative Störungen auf. Offenbar brauchen wir eine Angleichung unseres inneren Rhythmus mit unserer Umwelt und dabei spielen unsere Augen eine besondere Rolle, wie die negativen Resultate der Augenentfernung bei Blinden zeigen.
Inwieweit ist die Augenfunktion für rhythmen verantwortlich?
Die Entdeckung des Melanopsin ermöglichte schließlich eine Erklärung dafür, warum Augen unabhängig vom Sehvermögen für unsere Rhythmen und unsere vegetative Gesundheit wichtig sind. Melanopsin ist ein lichtsensitives Protein in der Netzhaut, das aber im Gegensatz zum Rhodopsin nichts zu unserem bewussten Sehen beiträgt. Auch bei kompletter Blindheit spielt Melanopsin eine entscheidende Rolle für unsere vegetative Gesundheit. Es ist besonders sensitiv auf die blauen Frequenzen des Tageslichts, die morgens verstärkt auftreten und leitet diesen Reiz weiter an den Nucleus Suprachiasmaticus, ein Areal oberhalb der Sehnervkreuzung im Gehirn, das eben nicht für Sehen verantwortlich ist, sondern für die Aktivierung des Körpers in den Wachzustand. Tiere, bei denen man durch Genmodifikation die Produktion an körpereigenen Melanopsin eliminiert hat, weisen die vegetativen Störungen auf, die auch bei blinden Menschen auftreten, deren Augen operativ entfernt wurden.
Wie können wir Einfluss nehmen?
Für unsere Gesundheit ist dieser Zusammenhang von so großer Bedeutung, weil Menschen im digitalen Zeitalter einen Großteil des Tages auf Bildschirme schauen, deren Licht überwiegend Blaufrequenzen aufweist. Smartphones, Tablets, PCs und Fernseher spät am Abend reizen das Melanopsin und suggerieren, dass der Morgen anbricht. Ich beobachte seit Jahren, dass Menschen, die bis spät am Abend am Computer arbeiten, im Smartphone unterwegs sind oder sehr lange Fernsehen, häufig an Verdauungsstörungen und an Mangelerscheinungen trotz guter Ernährung leiden und dass diese Probleme erst verschwinden, wenn der digitale Zeitvertreib besonders am Abend deutlich reduziert wird. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Überdosis Blaulicht von Bildschirmen zu technische zu reduzieren, z. B.:
- Für den Computer das Programm f.lux, das kostenlos heruntergeladen werden kann und die Lichtfrequenz des Bildschirms der Tageszeit anpasst.
- Für das Smartphone der Night Shift Modus, der das gleiche tut.
- Die Prisma–Lichtschutzbrille, die ausgesprochen angenehm für die Augen ist, wenn man am Computer sitzt und die zu jeder Tageszeit empfehlenswert ist.
Trotz dieser guten Maßnahmen halte ich es für wichtig, dem Körper Pausen von Bildschirmen zu gönnen, besonders in der Zeit vor dem Schlafen. Die Abendzeit ist in unserem Tagesrhythmus dazu da, uns von der Aktivität in die Ruhe zu überführen und starke Reize in dieser Zeit stören den sanften Übergang.Ich kann jedenfalls auf aus der Praxis berichten, dass viele Menschen, die sich bereist hochwertig ernähren, gute Nahrungsergänzungsmittel nehmen und auch sonst gesund leben, erst dann ihre hochwertige Nahrung gut verwerten, wenn sie diesen entscheidenden Punkt beachten.
Wach- und Schlafrhythmus am Anfang und am Ende des Lebens
Wenn ein Baby geboren wird, ist der Wach– und Schlafrhythmus noch nicht an den Tag– und Nachtrhythmus angeglichen, wie übermüdete Eltern von Babies nur allzu gut wissen. Es dauert etwa vier Monate, bis die Funktionen von Melanopsin und Nucleus Suprachiasmaticus angelaufen sind. In diesem Zusammenhang ist die Studie erwähnenswert, die durch die Bundesdrogenbeauftrage Marlene Mortler im Mai dieses Jahres auf einer Pressekonferenz bekannt gemacht wurde. In dieser Studie wurde aufgezeigt, dass Babies, die gestillt werden, während die Mutter das Smartphone benutzt, Verdauungsstörungen und Schlafstörungen entwickeln. Nun schauen die Babies ja nicht direkt auf das Smartphone, aber sowohl eine Spiegelneuronen–Effekt, bei dem das Gehirn der Mutter das Gehirn des Babies mit dem eigenen Zustand „ansteckt“ oder auch lichtrezeptive Effekte der Haut können erklären, warum das Smartphone beim Stillen sehr ungünstige Effekte hat. Nicht zu unterschätzen ist sicher auch das fehlende emotionale Bonding, wenn die Mutter mit ihrer Aufmerksamkeit nicht präsent ist. Babies brauchen jedenfalls viel Unterstützung in den ersten Lebensmonaten, um gesunde Rhythmen entwickeln zu können.
Menschen im hohen Alter leiden oft unter nächtlichen Schlafstörungen, weil ihre Fähigkeit, den inneren Rhythmus dem Tag anzugleichen, zurück geht. Unsere Augen sind ja so stark beansprucht, dass keine Zelle im Auge älter ist als zwei Tage. Die sehr starken Regenerationsanforderungen an die Gewebe der Augen können im hohen Alter oft nicht mehr ausreichend erfüllt werden und die Konzentration an Melanopsin in der Netzhaut verringert sich dadurch. Das etwas penible wirkende Festhalten alter Menschen an Ritualen wie genau eingehaltenen Essenszeiten oder anderen Aspekten der Tagesgestaltung, dass manchmal für jüngere Menschen befremdlich wirkt, ist möglicherweise ein instinktives Gegensteuern zum Verlust von Rhythmus. Jedenfalls wäre es ein aus meiner Sicht lohnenswert, Menschen im hohen Alter mit Angeboten für gesunde Gehirnfunktionen zu unterstützen, so dass der Verlust von Rhythmusangleichung verringert werden kann. Meine Großeltern nahmen bis ins hohe Alter an Sprachkursen teil und ich konnte dadurch beobachten, wie das Lernen und Üben neuer Strukturen, wie der Grammatik und des Rhythmus einer neuen Sprache das Gehirn lebendig hält. Strukturen und Rhythmen immer wieder neu kennen zu lernen und in bestehendes Wissen und Können zu integrieren ist ein Geheimnis guter Gesundheit durch alle Lebensphasen.
Stille für ein gesundes Leben
Rhythmus ist Bewegung und Bewegung ist Leben. Aber gesundes Leben braucht auch den Nährboden der Stille, auf dem sich harmonische Rhythmen entfalten können. In dieser reizüberfluteten Zeit lohnt es sich sehr, sich einer alten Taoistischen Weisheit zu erinnern:
„Widme jeden Tag eine halbe Stunde dem Nichts–Tun. Außer wenn du sehr beschäftigt bist, dann brauchst du eine Stunde.“