Mein Gewahrsein ist wie ein zweiter Körper, der alles enthält, was ich erlebe. Er ist immer präsent, in jeder Erfahrung. Sobald ich meine Aufmerksamkeit auf das Gewahrsein meines zweiten Körpers richte, bin ich in der Präsenz des Augenblicks. Dieser zweite Körper hat die unterschiedlichsten Eigenschaften: Lebensfreude, Wahrhaftigkeit, Abstand, Humor, Stille, Gelassenheit, Frieden, Mitgefühl, inneres Wissen, Spontanität, Erlebnistiefe und vieles mehr. Deswegen kultiviere ich ihn schon seit vielen Jahren, bzw. immer dann, wenn er mir abhandenkommt.
In welchem Körper befinde ich mich?
Wenn ich meine Aufmerksamkeit in dieser Empfindung meines körperlichen Gewahrseins verankere, verliere ich mich nicht so leicht in meinen Gedanken oder im Drama der äußeren Welt. Das Drama der äußeren Welt ist gratis, es ist gesetzt. Der Kommentar, den mein Verstand dazu abgibt, ist auch gratis, ebenfalls gesetzt. Meine emotionale Reaktion auf das, was da draußen in der Welt oder in meinen Beziehungen passiert, passiert auch weitgehend automatisch. Entscheiden kann ich oft nur, ob ich mich ins Drama reinziehen lasse oder im zweiten Körper des Gewahrseins verweile. Hazrat Inayat Khan, ein Sufi-Mystiker des letzten Jahrhunderts, formulierte es so: „Wenn ich meine Augen nur für die äußere Welt öffne, fühle ich mich wie ein Tropfen im Ozean. Wenn ich jedoch die Augen schließe und nach innen schaue, sehe ich das ganze Universum wie eine Perle, die im Ozean meines Herzens emporsteigt.“
Die "innere Welt"
Die innere Welt ist uns am nächsten. Wir nehmen sie immer mit, egal wo wir sind und was wir erleben. Die innere Welt ist unsere intimste Dimension, und doch ist sie meist besetzt von sorgenvollen Gedanken, Gefühlen, Kommentaren, Belastungen, Wünschen oder ToDo Listen. Sobald ich - auch in der inneren Dimension - meinem zweiten Körper Raum gebe, bin ich wieder zu Hause, im Kern meines Seins. Die innere Welt unterliegt genauso bestimmten Gesetzmäßigkeiten, wie die äußere Welt. Egal ob ich deprimiert oder glücklich bin, scheinbar gibt es immer eine Ursache dafür. Die Verankerung im zweiten Körper des Gewahrseins hat für mich einen entscheidenden Vorteil: Ich kann Zufriedenheit erleben, die unabhängig von äußeren und inneren Bedingungen ist. Sowohl im tibetischen Buddhismus als auch im Yoga wird dieser Zustand der Verankerung im reinen Gewahrsein mit „bedingungsloser Freude“ assoziiert.
Die wichtigste Frage ist für mich seit vielen Jahren: „Wie ist der Zustand meiner inneren Welt und wie fühlt es sich an, mir dieses Zustandes einfach nur gewahr zu sein, im 2. Körper zu verweilen?“ Ich bringe diese Frage mehrmals während des Tages immer wieder in mein Bewusstsein, da sie mir erlaubt, meine Aufmerksamkeit nach innen zu richten, aber nicht auf Gedanken oder Gefühle, sondern auf das Ich-Gefühl, das sich all dessen gewahr ist. Wie fühlt es sich in diesem Moment an, einfach Du-Selbst, reines Gewahrsein zu sein? Ich erwarte auf diese Frage keine schlaue Antwort, sondern nur ein "Feeling" für meinen zweiten, subtilen Energiekörper.
Sobald wir nachhaltig im zweiten Körper des Gewahrseins verankert sind, sind auch Gedanken kein Problem mehr, egal ob sie positiv oder negativ sind. Im Selbst-Gewahrsein trainiert, entpuppen sich Gedanken als das, was sie in ihrem Wesen sind: flüchtige Objekte, die nur relative Bedeutung haben, nie absolute. Ich habe über die Jahre gelernt in allem, was ich tue, meinem zweiten Betriebssystem, dem subtilen Körper des Gewahrseins, zu vertrauen und ihm zu folgen. Der erste Schritt jedoch bestand in der Entscheidung, meine Prioritäten neu zu setzen. Die erste Priorität wurde von da ab mein innerer Zustand des Gewahrseins. Der Buddhismus spricht hier vom Dharmakörper, unserer ureigenen Natur, zu der man Zuflucht nimmt. Dieser Dharmakörper ist in jedem Menschen immer präsent, aber da er so subtil ist, übersehen wir ihn oft und verstricken uns in die Probleme der äußeren Welt. Im Dharmakörper zu Hause zu sein bedeutet präsent, wirklich da zu sein.
Der Dharmakörper
„Als ein Vater seinen zwölfjährigen Sohn fragte, was er sich zum Geburtstag wünsche, antwortete dieser: 'Papa, ich möchte dich!' Sein Vater arbeitete sehr viel und war selten zu Hause. Sein Sohn war eine Glocke der Achtsamkeit, die ihn daran erinnerte, dass das kostbarste Geschenk, das wir unseren Liebsten machen können, unsere wirkliche Gegenwart ist.“ Thich Nhat Hanh
Dharma bedeutet auch seine eigenen Talente und Begabungen zu entfalten. Dieser zweite Körper enthält sein eigenes Navigationssystem. Mit ihm gelingt auch die Verbindung ins Cloud-Bewusstsein, die Entfaltung intuitiver Intelligenz und tiefe Ruhe, die dann zu einem ständigen Begleiter werden kann. Deshalb ist für mich der Aufenthalt im Dharmakörper die erste Priorität, und ich frage mich regelmäßig während des Tages: „Wie fühlt es sich in mir an? Bin ich in meinem Gewahrsein, in meinem zweiten Körper, zu Hause? Egal wie die Antwort lautet, meine Priorität ist klar. Ich wähle immer die offene Weite des formlosen, reinen Gewahrseins.