Sex ist in unseren Köpfen leider viel zu sehr mit jungen, fitten Menschen, mit makellosen Körpern und Endlosausdauer verbunden. Eine kanadische Studie bricht mit diesen Vorteilen und hat herausgefunden, dass erfüllender Sex mit Liebe, Beziehung, Vertrauen sowie Empathie und weniger mit körperlicher Fitness und Akrobatik zu tun hat. Was es mit der Studie über Sexualität im Alter von Peggy Kleinplatz auf sich hat und warum guter Sex im Alter, ähnlich wie Wein, immer besser werden kann, erfährst du hier.
Lust auf Liebe: Guter Sex kann im Alter noch besser werden
Sexuelle Erfüllung ist eine unserer Grundbedürfnisse und hierbei geht es um viel mehr als um sportliche Leistung, gewagte Stellungen oder den Einsatz von bestimmten Techniken oder Tools. Bedauerlicherweise wird in unserer leistungsorientierten Gesellschaft auch die körperliche Liebe mit fragwürdigen Parametern gemessen, die nur einen kleinen Teil des sexuellen Spektrums ausmachen. Unsere Gesellschaft ist stark sexuell aufgeladen, um Produkte zu verkaufen. Tatsächlich wird aber extrem wenig über echte sexuelle Wünsche und das Bedürfnis nach Liebe gesprochen.
Ein hartnäckiges Vorurteil ist etwa jenes, dass das Sexleben mit dem Alter weniger aufregend wird. Die kanadische Sexualtherapeutin Peggy Kleinplatz beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit erfüllter Sexualität. Sie hat sich damals zum Ziel gesetzt, herauszufinden, was guten Sex ausmacht. In Interviews hat sie Tipps von Frauen und Männern gesammelt, die sich in langjährigen Partnerschaften befinden und dabei mit ihrem Partner großartigen Sex haben. „Ich wollte wissen, was wir von Liebhabern, die prächtigen Sex haben, lernen können, um unseren Patienten wirklich zu helfen“, erklärt sie in einem Interview als Motivation für ihre Forschungen.
Tipps von den Besten: Was sind die Zutaten für guten Sex?
Das Ergebnis ihrer Interviews, die sie mit Paaren geführt hat, die über ein glückliches Sexleben verfügen, ergibt etwas völlig anderes, als es uns Selbstoptimierungstrends und Leistungsgesellschaft einreden wollen. Ihr Fazit lautet kurz gefasst: Hervorragender Sex hat nichts mit dem Alter oder der körperlichen Fitness zu tun. Es geht vielmehr um Hingabe, Einfühlungsvermögen, Kommunikation und Liebe.
In ihren Interviews sprach Peggy Kleinplatz mit Paaren, die seit 25 oder mehr Jahren eine Beziehung führen. Dass diese Menschen keine knackigen Mittzwanziger mehr sein können, liegt auf der Hand. In ihrem „Magnificent Sex“ hat die Therapeutin Komponenten zusammengefasst, die glücklichen Sex ausmachen. Dazu gehören:
- Präsenz: Sex kann in einer Partnerschaft schnell langweilig werden, wenn er zur Routine wird und beide Partner nicht ganz dabei sind. Ein wesentlicher Vorteil von älteren Menschen ist, dass sie genauer wissen, was sie wann möchten. Männer und Frauen mit Lebenserfahrung sagen eher Nein zu Sex, wenn sie keine Lust darauf haben und sind dafür viel präsenter beim Liebesspiel, wenn sie es nicht als Pflichterfüllung sehen.
- Fürsorglichkeit: Liebe, Respekt und Interesse an der anderen Person sind beim Sex unverzichtbar. Auch dann, wenn beide in keiner langjährigen Beziehung sind oder die Partnerschaft noch neu ist.
- Empathische Kommunikation: Der Austausch von Liebenden geschieht nicht nur mit Worten, sondern durch Berührung. Für die Therapeutin bedeutet das nicht nur physisch, sondern auch emotional nackt zu sein. Damit ist der verbale und nonverbale Austausch vor, während und nach dem Liebesspiel gemeint. Es geht beispielsweise darum, sich mit seinen emotionalen und sexuellen Bedürfnissen offenbaren zu können, die Hand des Gegenübers zu führen, um zu signalisieren, welche Berührungen am eigenen Körper angenehm sind.
- Risikobereitschaft: Zu ehrlicher Kommunikation gehört natürlich auch Mut zum Risiko. Etwa das Risiko, nicht auf ausgetretenen Wegen in Richtung Orgasmus zu schreiten, sondern kleine Umwege zu wagen. Eine interessante Erkenntnis aus der Forschung von Peggy Kleinplatz ist auch jene von Frauen und Männern, deren Sexualität nicht den heteronormativen Standards entspricht. Dazu gehören queere Personen oder LGBTIQ-Menschen, die ihre Bedürfnisse und Wünsche leichter entdecken können, da sie weniger vorgegebene erotische Schemata bedienen können. Sie gehen ein Risiko ein, da sie gewissermaßen Neuland entdecken müssen, können sich so aber besser auf ihre eigenen Bedürfnisse konzentrieren.
- Schamfreiheit: Für erfüllten Sex ist es wichtig, dass sich beide Partner im Moment fühlen und ganz sie selbst, frei von Scham sein können. Das ist kein leichtes Thema, da wir vielen Einflüssen ausgesetzt sind und Scham auch eine Schutzfunktion für uns hat. Aber eigentlich geht es in der Liebe und im Sex ja darum, diesen verletzlichen Zustand vertrauensvoll mit deinem Partner zu erleben.
- Authentizität: Miteinander aufrichtig sprechen und einfühlsam erfragen, was der andere möchte oder was man selber gerne hätte, ist ebenso unverzichtbar für erfüllten Sex in einer Partnerschaft. Vieles, aber nicht alles geschieht intuitiv beim Sex und jede Frau und jeder Mann mag andere Dinge im Bett. Glückliche Paare haben einen verspielten, humorvollen Umgang miteinander und können ihre Wünsche ausdrücken. Sie reden im Bett nicht anders miteinander als sonst auch.
- Hingabebereitschaft: Großartiger Sex lebt auch davon, dass sich die Partner ihrem Gegenüber ganz „hingeben“ können und sich verletzlich zeigen. Das bedeutet, die Kontrolle abzugeben und sich im Flow zu befinden. „Du musst nichts tun, du musst nur nichts tun“, lautet die Devise.
- Transzendenz und Transformation: Für viele Befragten, die über ihre besten sexuellen Erlebnisse in den Interviews berichteten, ist erfüllender Sex keine Bonusaktivität oder ein Sport, sondern eine spirituelle Angelegenheit. Sie bezeichneten diesen als tranceartigen Zustand, als eine Art High oder Ekstase und als absolut lebensbejahend.
Spezielle Techniken, der Orgasmus, bestimmte Stellungen, die Penetration selbst oder körperliche Lust spielten bei den Interviews eine eher kleine Rolle. Sie sind nicht die Zutaten, die erfüllten und schönen Sex ausmachen. Ausnahme ist das Küssen mit Gefühl, das von den Teilnehmenden als wichtig und bereichernd empfunden wurde.
Kann man guten Sex lernen?
Für die Kanadierin ist guter Sex keine Frage des Lernens, sondern vielmehr des Entdeckens und Enthüllens. Sie vergleicht die Bereitschaft, auf jemanden einzugehen, damit, wie es ist, ein Baby auf dem Arm zu halten. Hier wird spontan im Moment auf die Signale des Kindes reagiert, darauf geachtet, ob das Baby lächelt oder sich entspannt. Es geht darum, auf den anderen einzugehen, zu antworten, nicht darum, eine Performance hinzulegen.
Im Laufe unseres Heranwachsens lernen wir, unsere Gefühle zu kanalisieren und viele Schutzschilde um unsere Persönlichkeit zu legen. Guter Sex lebt aber davon, dass wir uns so geben, wie wir wirklich sind, aufrichtig und verletzlich, mit Liebe und Bereitschaft zum Risiko.
Das ist ein Umdenken, das für viele Männer und Frauen oft nicht so leicht ist. Um diese Hebel im Kopf umzulegen, kann eine Beratung oder Therapie unterstützend wirken.
Klaus Peill ist Sexualtherapeut und bietet auch zum Thema Tantra Kurse an. Im Tantra liegt der Fokus auf dem spirituellen Erleben und weniger am direkten Weg zum Orgasmus.
Peggy Kleinplatz berichtet auch darüber, dass sich Paare, die Probleme mit ihrem Sexualleben haben, weil ein Partner oft mehr Sex möchte als der andere, sich in Gruppen oft viel besser aufgehoben fühlen als zu dritt mit einer Therapeutin. Menschen fühlen sich oft besser verstanden, wenn sie auf andere treffen, die ähnliche Probleme oder Fragen haben, wie sie selbst.
Muss ich alt sein, um guten Sex zu haben?
Peggy Kleinplatzs Forschungen drehen die Diskussion um das Thema Sexualität im Alter komplett um. Ihre Erkenntnisse weisen Sexualität den Platz zu, den sie verdient – einen ganzheitlichen und spirituellen. Der Körper ist im Alter vielleicht weniger auf Reproduktion eingestellt, was aber nichts mit der Fähigkeit zur aufrichtigen Liebe oder sexuellen Erfüllung zu tun hat. Im Gegenteil: Empathische Kommunikation, Selbstbestimmung und die Bereitschaft, auf deinen Partner einzugehen, wachsen mit der Erfahrung im Leben, was aber nicht bedeuten muss, dass nur ältere Menschen guten Sex haben. Es kommt ganz auf die Qualität der Beziehungen an.
Die Reife einer Beziehung oder die Bereitschaft zu echtem Kontakt, Gefühl und Verständnis für deinen Partner, haben nichts mit dem Alter zu tun. Auch nicht unbedingt mit der Dauer der Beziehung, obwohl es in langjährigen Beziehungen leichter ist, vertraut miteinander umzugehen und sich dem anderen zu öffnen. Wer Sexualität und Liebe nicht als etwas sieht, das man konsumieren kann, sondern mehr als spirituelles Erlebnis, für den ist das Alter dabei völlig unwichtig.