Der Tantriker strebt danach, seine Anhaftung an die „profane“ Welt loszulassen. „Im Feuer löse ich mich von der Anhaftung an meine persönliche Geschichte. Ich lasse sie los.“ Soweit so gut. Doch die Anhaftung ist wie ein doppelseitiges Klebeband. Meine persönliche Geschichte gehört nicht nur mir allein, sondern allen, die mit ihr zu tun haben.
Wie entsteht meine persönliche Geschichte?
Wenn ich in ein fremdes Land komme und mir bisher unbekannte Menschen treffe, ist meine Geschichte noch ein leeres, unbeschriebenes Blatt. Doch bereits wenn ich dem Zöllner meinen Reisepass vorlege, in welchem die Ein- und Ausreisestempel vergangener Reisen in andere Länder zu sehen sind, entsteht in diesem Menschen ein Bild meiner persönlichen Geschichte. Zugegeben – nur ein sehr kleiner Ausschnitt.
Wie ist es jedoch mit anderen Menschen?
In dem Moment, wo ich mit jemandem in Augenkontakt trete, ihm die Hand reiche, beginnt ein Teil einer persönlichen Geschichte, die uns beide angeht. Es entsteht Beziehung. Ob diese Geschichte nach einem buchstäblichen Augenblick endet oder ob sie weitergeht, ist dabei völlig unerheblich. Jede Begegnung ist Teil meiner persönlichen Geschichte.
Die persönliche Geschichte beginnt mit meiner Geburt. Nein, noch viel früher: mit meiner Zeugung, wenn Vater und Mutter den sexuellen Akt vollziehen, der meine Inkarnation in diesem Körper zur Folge hat. Und wenn ich es genau nehme, sind nicht nur meine Eltern, sondern auch meine Großeltern und alle meine Ahnen Teil meiner persönlichen Geschichte. Ebenso wie meine gesamte Herkunftsfamilie, meine Nation, meine Rasse, meine Religion, mein soziales Umfeld. Ich komme also bereits mit einer persönlichen Geschichte in diese Welt.
Warum Beziehungen loslassen?
Mit diesem Grundstock an persönlicher Geschichte trete ich nun in Beziehung. Die erste Beziehung ist jene zu meiner Mutter, gefolgt von der Beziehung zu meinem Vater. Dann jene zu meinen Geschwistern, Familie, Freunden, Schulkameraden, Kollegen, Partnerinnen, Ehepartner, Kinder und, wenn mein Leben lange genug währt, auch Kindeskinder.
All dies will der Tantriker loslassen? Beziehungen vergessen, die Familie verleugnen, die Mutter negieren? Ist das überhaupt möglich? Und warum?
Beziehungen und die damit verbundene persönliche Geschichte erzeugen Erfahrung in meinem Leben. Mein mehr oder weniger bewusster Geist vergleicht in jedem Moment alles, was ihm begegnet mit bereits gemachten Erfahrungen. Das verleiht mir die Sicherheit, gefahrvolle Situationen rechtzeitig zu erkennen und der Gefahr aus dem Weg zu gehen oder mich entsprechend zu wappnen. Andererseits geschieht dabei gleichzeitig eine Kategorisierung, die die Dinge, die mir begegnen, fein säuberlich in die Schubladen packt, die ich bereits kenne.
Leben, ohne zu bewerten
In der Beziehung zu einem Menschen bedeutet das, dass ich ihn oder sie bewerte, indem ich mir ein Bild von ihm mache. Gleichzeitig stülpe ich diesem Menschen jedoch eine „persönliche Geschichte“ über, die ich mir über ihn oder sie ausmale. „So ist er eben!“ Meine Wertung und meine Bilder schränken jedoch das Potential meiner Erfahrung mit diesem Menschen ein. Mein Horizont beschränkt sich auf meine gemachten Erfahrungen und das Bild, das ich mir mache. Das ist das doppelseitige Klebeband: meine persönliche Geschichte besteht nicht nur aus meinem Selbstbild, sondern ebenso aus den Bildern, die sich andere von mir machen.
Loslassen und das ganze Universum entdecken
In der vollzogenen Sexualität strebt der Tantriker nach der Entwicklung der ursprünglichen Lebenskraft in sich selbst. Sexualität ist Lebensenergie. Sie umgibt uns in jedem Moment. Das Universum ist erfüllt von Lebensenergie. Diese Lebensenergie wird sichtbar in der sexuellen Kraft und der Vereinigung. In der Vereinigung wird diese Energie in den Beteiligten entfacht und verbindet sich mit der Lebensenergie des Universums.
Begegne ich im Ritual als Mann einer Frau, mache ich mir bewusst, dass diese Frau nicht meine Mutter ist. Sie ist auch nicht meine Schwester oder eine meiner früheren Lebens- oder Sexualpartnerinnen. Sie ist keine von ihnen und doch alle zugleich. Sie ist Hure und Heilige und vereint in sich als „Shakti“ alle Aspekte von Weiblichkeit – auch die scheinbar gegensätzlichen. Ohne meine Bilder von dieser Frau als Mensch loszulassen, wird es mir schwerlich gelingen, das ganze Universum in ihr zu entdecken.
Meine persönliche Geschichte - egal ob als Selbstbild oder Fremdbild - erzeugt die Blockaden in meinem Geist, in meinen Emotionen und in meinem Körper, die mich hindern, die Lebensenergie und die Sexualität frei fließen zu lassen. Wie aber kann ich meine persönliche Geschichte loslassen? Wenigstens für die Dauer eines Rituals?
Einfacher loslassen durch Tantra
Das Ritual bietet die Rahmenbedingungen, in welchen ich – für einige Zeit – meine persönliche Geschichte tatsächlich loslassen kann – zumindest den Teil, der meinen Geist beherrscht. Abläufe, rituelle Formeln und Mantren beschäftigen meinen Geist so vollständig, dass er keine Zeit mehr hat, sich um meine oder die persönlichen Geschichte anderer Ritualteilnehmer zu kümmern. Schwieriger wird es mit Emotionen, also gespeicherten Gefühlen aus früheren Erfahrungen. Sie können durch meine Sinneswahrnehmung unwillkürlich induziert werden. Mein bewusster Atem ist das Werkzeug, das mich aus emotionalen Zuständen wieder zurück in den Augenblick bringt.
Meinen Körper erfahre ich als das schwierigste und herausforderndste Erfahrungsinstrument im Loslassen meiner persönlichen Geschichte und der Gegenwärtigkeit im Augenblick. In meinem Körper sind alle Erfahrungen meiner persönlichen Geschichte mehr oder weniger offensichtlich gespeichert. Jede Falte, jede Narbe hat ihre Geschichte und erinnert mich an die Erlebnisse, die sie entstehen ließen. Und nicht nur die äußerlich sichtbaren Dinge sind in meinem Körper gespeichert. Jede Erfahrung ist auf der Zellebene gespeichert und beeinflusst meine Körperreaktionen.
Narben und Falten oder auch Zellerinnerungen kann ich nicht einfach auslöschen. Diesen Teil meiner persönlichen Geschichte kann ich nicht loslassen. Den Körper zu pflegen, ihn zu trainieren und mit ihm zu üben so oft es geht, ist das einzige Mittel, die persönliche Geschichte auf der körperlichen Ebene derart zu bereichern, dass die einzelne Erfahrung keine Macht mehr über mein aktuelles Erleben hat. Ein körperliches Defizit lässt sich ausgleichen, indem ich andere Fähigkeiten entwickle. So wie ein Blinder seine Umgebung perfekt beschreiben kann, indem er seine anderen Sinne – Hören, Tasten, Riechen und Schmecken entwickelt hat.
Jeder Mensch, jedes Wesen schreibt persönliche Geschichte. Manchmal wird die persönliche Geschichte sogar Teil der Weltgeschichte. Dies zu verleugnen, wäre unrealistisch. Meine persönliche Geschichte jedoch derart „loszulassen“, dass ich gleichzeitig leer von meiner eigenen Geschichte und doch angefüllt von der Geschichte aller Wesen bin – mit allem verbunden und angebunden als „liebender Teil des Universums“ – das könnte mit dem Ende der Anhaftung gemeint sein...